Georg Philipp Telemann, Jesus sei mein erstes Wort

Die ganze Kantate „Jesus sei mein erstes Wort“ 

von Georg Philipp Telemann (1681–1767) schaut auf ein Menschenleben von der Geburt bis zum Jenseits durch die Brille der Barockzeit des 18. Jahrhunderts, denn auch 1715 war die Welt sehr „durchwachsen“ und voller Widersprüche. Da ist Gottvertrauen und ein sich-verlassen-können auf Jesu Gegenwart quasi existentiell. Letztlich wie heute auch in einer globalisierten, chaotisch anmutenden Welt voller Widersprüche.

Der „gebildete Barockhörer“ aus dem städtisch-bürgerlichen Leben (in Darmstadt um Christoph Graupner, in Frankfurt und später in Hamburg um Georg Philipp Telemann, in Leipzig um Johann Sebastian Bach) kennt die Abläufe des evangelischen Gottesdienstes ganz verinnerlicht. Er weiß zudem um die musikalischen gewohnten Formabläufe und Vorgänge in Oper und Oratorium und weiß ebenso die Abläufe der Lutherischen Messe in deutscher Sprache, so wie er sich auch noch erinnert an die alten lateinischen gregorianischen Gesänge.

Dies ist im Vorfeld dieser Kantate von besonderer Bedeutung, da Telemann ganz bewusst die traditionelle Reihenfolge oder musikalische Abfolge einer Kantate, die am Sonntag morgen erwartet wird, nicht nur auf den Kopf stellt, sondern noch in ganz besonderer Weise durch den allerersten Anfang und das umgedreht am Ende stehende „Fest der französischen Ouvertüre“ geradezu die Zuhörer „schockiert.“

Der Reihe nach.

Die Kantate, die ca. 21-23 Minuten dauert, hat sage und schreibe zehn Nummern, die die drei Lebensabschnitte Geburt – Erwachsen sein – Sterben (ewiges Leben) in drei Gruppen unterteilt:

Geburt & erwachsen werden/sein. Die Nummern 1/2/3
Arie – Choral – Rezitativ: Sopran-Solo-Arie / Gemeinde-Choral (Coro) / Rezitativ

Das ganz normale Leben. Die Nummern 4/5/6
Arie – Choral – Rezitativ: Bass-Solo-Arie / Gemeinde-Choral (Coro) / Rezitativ

Das Ende des Lebens und die Auferstehung. Die Nummern 7/8/11 (in unserer Aufführung statt 9)
Gemeinde-Choral (Coro) – Tenor-Solo-Arie – Rezitativ / hier als Motette

Schlusschor-Das große Lob Die Nr. 10 aus Kolosser 3,17 als abschließende biblische Betrachtung auf das Gesamt-Geschehen. Eine Lebens-Zusammenfassung. „Das tut alles im Namen des Herrn.“

 

Geburt & erwachsen werden. Die Nummern 1/2/3
Der Sopran Solo beginnt (mit g2 beginnend als 4 durchlaufende Sechzehntel auf die Zeit), ganz alleine ohne Orchestervorspiel. Das ist für Barockmusik echt ein Hammer!  Theologisch-Musikalisch ist das geradezu kongenial gut gelöst! „Jesus sei mein erstes Wort“ – keinerlei Einführung, Vorbereitung durch die sonst übliche Orchester-Einleitung. Kein Eingangschor, keine Sinfonia. – Ein Statement. Punkt. Sonst nichts. „Jesus. Erstes Wort.“

Geboren werden, hier musikalisch dargestellt fast wie der erste Schrei eines Säuglings direkt nach der Geburt – mit der Gewissheit, dass Jesus als „erstes Wort“ immer bei mir ist (Nr. 1, Solosopran). Erwachsen werden, tägliche Arbeit, jeder „Schritt und Tritt“ des Lebens, „Glück, Heil und Segen“ und: sinnvolle, erfüllende („nützliche“) Arbeit – Dankbar dafür sein und Gott loben. (Nr. 2, Gemeindechoral). Bestätigt durch das Rezitativ: „Wer Jesus bei sich hat“, der ist immer gut drauf. Dem gelingt Leben. (Nr. 3, Rezitativ)

Das ganz normale Leben. Die Nummern 4/5/6
„Jesus, tägliches Wort“ leitet mich „an meiner rechten Seite“ (Verweis: zur Rechten Gottes sitzen wollen als Sehnsuchtsort). Das führt zu einem „freudig bestellten Weg“, also gelingendem Leben. (Nr. 4, Bass-Arie) – doch – in der Welt lauern Gefahren, der „Teufel“ lauert mit seinen Versuchungen. Jesus „schlägt sie darnieder“. Wohlfühlzeit. Nichts kann mir schaden. (Nr. 5, Gemeindechoral). Bestätigt durch Nr. 6, Rezitativ: Wer Jesus bei sich hat, dem geht es einfach nur gut. Unerschrocken, keine Angst vor dem Leben und Leiden, immer gut drauf, der „hat ein Freudenlicht“. Und: „wird niemals verlassen.“ Das bestätigt die Gemeinde: „mir kann weder Tod noch Teufel schaden“, auch dann, wenn das Leiden des zu Ende gehenden Lebens naht. Ich ergebe mich in Gott, den Herrn, denn er „Wer Jesum bei sich hat, kann sich geduldig fassen.“ (Nr. 6, Rezitativ).

Das Ende des Lebens und die Auferstehung. Die Nummern 7/8/11 (3. Strophe, an Stelle von 9) 
Betrachten wir die Situation am Ende des Lebens: hier eine unerwartete Umstellung der bisherigen Reihenfolge: zuerst der Gemeinde-Choral an erster Stelle, die zweifelnde Gemeinde trägt voller Vertrauen vor: „Auf ihn will ich vertrauen in meiner schweren Zeit“. Alles, das ganze Leben, stellt die gläubige Gemeinde unter den Schutzschirm Gottes, „er mach’s, wie’s ihm gefällt.“ Dem folgt dann die Arie „Jesus sein mein letztes Wort“. Auch in der letzten Lebensstunde, ich bekenne sogar, auch dann, wenn ich „selig fortfahre“ – gilt es zu jubilieren und Gott zu loben! Die langen Viertelnoten des Solisten der ersten Worte „Jesus sei mein…“ zeigen: Stabilität, Gewissheit, Zuversicht im Glauben. (Nr. 8, Tenor Solo) – Die Koloratur im B-Teil „Und so fahr ich selig fort“ ist eine extrem anspruchsvolle Kantilene für den Sänger. Und welches Instrument kann besser als alle anderen dies verdeutlichen: die beiden Oboen entfalten ein großartiges Solo-Kantilenen-Duett über dem Gesang des Tenors. So muss es klingen, wenn man ins Himmlische Reich einziehen wird. 

In der Aufführung am 20.7.2025 folgt dann eine Zweitfassung des dritten Rezitativs als Chormotette aus einer späteren Aufführung vermutlich um 1725: „Wer Jesus bei sich hat, kann nicht im Tode sterben“. Dass der Tod das Leben besiegt hat, ist die ursprünglich wichtigste Aussage des Christentums überhaupt. Das „Opfer“ am Karfreitag wurde an Ostern „angenommen“. Das Leben hat den Tod besiegt. Ich „erbe das Leben“, ich „werde froh zu Grabe gehn“. Glaubenszuversicht, die Herrlichkeit der Auferstehung ist die Krönung des Lebens. Die Telemannsche Zweitfassung ist ein fröhliches, intensiv gefeiertes Fest der Auferstehung, ein österliches „Sterben“ voller Freude und Zuversicht. „Amen.“ Schließt es. Ganz knapp und großartig. (Nr. 11, Chormotette an Stelle des Rezitativs Nr. 9 von uns ausgewählt). 

Schlusschor – Das große Lob
Als Schluss wird das Bibelwort aus Kolosser 3, Vers 17, „Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken“, den man in der Kirchenmusikszene als Kantate von Dieterich Buxtehude kennt, ganz wunderbar neu vertont. Einer Ouvertüre im französischen Stil (scharfe Doppel-Punktierungen) folgt eine sehr knappe, aber nicht weniger fulminante Chorfuge „und danket Gott und dem Vater durch ihn.“ Und erfüllt nun auch endlich die normale Erwartungshaltung des barocken Hörers auf eine Chorfuge mit vollem Orchester.

Dass diese festliche französische Ouvertüre am Ende steht, ist eine theologische Aussage: ein festlicher Marsch Richtung Himmelreich, so wie der König begrüßt wird in Versailles, so stellt sich Telemann das Ende vor. Mit der sonst am Anfang einer Suite stehenden Musik einer Ouvertüre vollendet Telemann das Konzept der „umgekehrten Reihenfolgen“ aller Teile dieser Kantate ganz logisch. 

Da muss man erst mal drauf kommen! 

© KMD Jörg Wöltche, Bad Kissingen, im Juli 2025

Der französische Jahrgang

Telemann hat für das Kirchenjahr 1714/15 in Frankfurt 72 Kantaten komponiert. Die originalen Handschriften dieser Werke werden in der Frankfurter Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg archiviert und sind größtenteils bis heute weder ediert noch seit dem 18. Jahrhundert jemals aufgeführt worden. Dieser Kantaten-Jahrgang wurde von Telemann im Blick auf das französisch geprägte Hoforchester von Sachsen-Eisenach geschrieben und wird wegen des dadurch spürbaren Einflusses französischer Barockmusik „französisch“ genannt. Er nimmt in Vollständigkeit, Besetzungsvielfalt und musikalischem Formenreichtum eine herausragende Stellung ein.

Wir haben diese Kantate aus den original erhaltenen Handschriften neu gedruckt und spielen zum Kissinger Sommer 2025 die erste Aufführung seit 1715 auf modernen Instrumenten. 

[00:00] 1. Aria, soprano
Jesus sei mein erstes Wort. | Bei der Arbeit meiner Hände, | dass er mir den Segen sende. | Kann ich dessen mich erfreuen, | so wird alles wohl gedeihen, | und mein Werk geht glücklich fort. | Jesus sei mein erstes Wort.

[03:32] 2. Coro
All Tritt und Schritt in Gottes Nam‘, was ich fang an, teil mir dein Hilfe mit und komm mir früh entgegen mit Glücke, Heil und Segen. Mein Bitt versag mir nicht.
All mein‘ Arbeit in Gottes Nam‘, was ich fang an, gereich zur Nutzbarkeit. Mein Leib, mein Seel, mein Leben, was du mir hast gegeben, lobt dich in Ewigkeit.

[04:53] 3. Rezitativ – Arioso I
Wer Jesum bei sich hat, was will der besser‘s haben? | Wer Jesum bei sich hat, hat mehr als alle Gaben. | Wer Jesum bei sich hat ist immer Gutes Muths. | Wer Jesum bei sich hat genießet tausend Guts. | Wer Jesum bei sich hat, hat Rat in allen Dingen. | Wer Jesum bei sich hat, dem muss es wohl gelingen.

[06:06] 4. Aria, basso
Jesus sei mein täglich Wort. | Hab ich Jesum zum Geleite | und an meiner rechten Seite, | so kann ich in allen Fällen | freudig meinen Weg bestellen. | Denn er ist mein starker Hort. |
Jesus sei mein täglich Wort.

[09:49] 5. Coro
Und wenn‘s gleich wär dem Teufel sehr und aller Welt zu wieder; dennoch so bist du, Jesu Christ, der sie alle schlägt darnieder. Und wenn ich dich nur hab um mich mit deinem Geist und Gnaden, so kann fürwahr mir ganz und gar wed’r Tod noch Teufel schaden.

[10:54] 6. Rezitativ – Arioso II
Wer Jesum bei sich hat, hat alles wohl ergehen. | Wer Jesum bei sich hat, kann unerschrocken stehen. | Wer Jesum bei sich hat, acht’t Kreuz und Leiden nicht. | Wer Jesum bei sich hat, hat stets ein Freudenlicht. | Wer Jesum bei sich hat, kann sich geduldig fassen. | Wer Jesum bei sich hat, wird nimmermehr verlassen.

[12:05] 7. Coro
Auf ihn will ich Vertrauen in meiner schweren Zeit. | Es kann mich nicht gereuen, er wendet alles Leid. | Ihm sei es heimgestellt. | Mein Leib, mein Seel, mein Leben | sei Gott dem Herrn ergeben. | Er mach‘s, wie‘s ihm gefällt.

[13:05] 8. Aria, tenore, oboe 1 und 2, b.c.
Jesus sei mein letztes Wort. | Ihn behalt ich in dem Munde | bei der letzten Lebensstunde. | Könnt ihn auch der Mund nicht nennen, | soll ihn doch das Herz bekennen. | Und so fahr ich selig fort. | Jesus sei mein letztes Wort!

[16:26] 9. Rezitativ -–Arioso III (in einer zweiten, späteren Fassung als Chormotette)
Wer Jesum bei sich hat, kann nicht im Tode sterben. | Wer Jesum bei sich hat, der muss das Leben erben. | Wer Jesum bei sich hat, wird froh zu Grabe gehn. | Wer Jesum bei sich hat, wird herrlich auferstehn. | Wer Jesum bei sich hat, krönt sich mit diesem Namen. | Wer Jesum bei sich hat, der gläubt und saget: Amen!

[18:25] 10. Coro
Largo: Alles, was ihr tut, mit Worten oder mit Werken, | das tut alles in dem Namen unsers Herrn Jesu Christi
Vivace: und danket Gott und dem Vater durch ihn. (Kolosser 3, 17)

Das Original befindet sich in der Digitalsammlung der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/urn/urn:nbn:de:hebis:30:2-382208

Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.